Vortrag von Pfarrer Roland Breitenbach im Rahmen des Mitarbeiterabends 2010 von St. Margaretha

am Mittwoch, 24. November 2010, in Mainaschaff

Arm und reich

Spirituelle Überlegungen zu einem brennenden gesellschaftlichen Problem
Ein Mensch wollte von einem erfahrenen Meister wissen, wie das Glück des Lebens zu finden und was das Geheimnis eines erfolgreichen Lebens sei?
Der Meister antwortete: „Mach jeden Tag einen Menschen glücklich!“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „… auch, wenn dieser Mensch DU selbst bist!“
Und wieder nach einer Pause sagte er: „Vor allem, wenn dieser Mensch du selber bist!“

Satz Nr. 1:
Die Schere zwischen Armut und Reichtum klafft immer weiter auseinander. Ein Ausgleich für mehr Gerechtigkeit funktioniert nur dort, wo ein Mensch wirklich gut ist zu sich selbst.
Ich könnte jetzt anfangen, Sie mit Statistiken zu langweilen, zum Beispiel, dass in den 400 großen Namen unserer Erde über die Hälfte Kapitals versammelt sind, dass ein Drittel der Menschheit im Reichen Norden über vier Fünftel der Güter unserer Erde in Händen haben, dass auch bei uns zu Lande, die Zahl der Sozialhilfeempfänger und damit die Armut vor allem von Kindern rapide ansteigt und die Kommunen völlig überfordert.

Das Wort Jesu: Die Armen habt ihr immer unter euch (Mt 26,11), hat nichts von seiner Aktualität verloren. Aber es ist kein Freibrief dafür, die Hände in den Schoß zu legen.

Was nützt es also, wenn wir diese Zahlen genüsslich anhören und uns in den Sessel zurück lehnen und endlich Gerechtigkeit für alle Menschen fordern? Das geschieht oft genug in einem verbissenen Ton, der den Willen zur Veränderung schon im Ansatz erstickt. Die anderen sollen es machen! Die Politiker, die Wirtschaftsbosse, die Kirchenfürsten und weiß Gott wer. Nur nicht wir selbst.

Veränderungen sind nur möglich, wenn wir wert schätzen und genießen, was wir haben. Hören wir zunächst die Aufforderung Jesu: Macht euch Freunde mit Hilfe des ungerechten Mammon. Das ist die eine Seite für mehr Gerechtigkeit in der Welt.

Glücklicherweise war Jesus kein Asket, er war – ich sage das mit allem Respekt – ein Genießer. So erkennbar, dass er im Blick auf seine Gegner fest stellt (Mt 7:34): Der Menschensohn ist gekommen, er isst und trinkt; darauf sagt ihr: Dieser Fresser und Säufer. Das, was wir haben, was uns geschenkt ist und was wir uns erarbeitet haben, ist zunächst einmal dazu da, dass wir es gebrauchen und auch genießen. Sich selbst lieben, achten und ehren ist der erste Schritt zur Solidarität.

Die Frage bleibt: Wann ist der Mammon ungerecht?
Stichwort Mammon: Hinter diesem Begriff aus dem Aramäischen, der Muttersprache Jesu, verbirgt sich zunächst etwas, worauf der Mensch sein Vertrauen setzt. Noch heute sagen wir: Geld macht nicht glücklich, aber es beruhigt. Es beruhigt, weil es uns absichert. Nicht von ungefähr heißt es, dass mit Geld alles zu machen sei. Oder: Die Liebe vermag alles; aber Geld kann die Liebe kaufen.

Aus der Sehnsucht des Menschen nach Sicherheit, Geborgenheit und der absoluten Machbarkeit wird Mammon zum Begriff für Geld, Hab und Gut. Wer die Sicherheit anbetet, wer mit dem Reichtum alles macht, was er will, schafft sich einen Götzen. Das ist der ungerechte Mammon.

Satz Nr. 2:
Die größere Gerechtigkeit Jesu wird nur durch das Loslassen der Besitzenden erreicht.
Jesus geht es nicht um Gerechtigkeit in unserem Sinn, die bestenfalls sagt: Jedem das Seine – und dabei meint: Das Meine geht dich noch lange nichts an. Jesu Gerechtigkeit eilt den Bedürfnissen und Nöten des anderen voraus. Sie achtet auf das, was der andere braucht, und sorgt dafür, dass er es bekommt. So ist beispielsweise unser „Brückenhaus“ für obdachlose Jugendliche in Schweinfurt angelegt.

Achtsamkeit, das wäre die Forderung, die Jesus an uns richtet, wenn wir mit ihm das Reich Gottes bauen wollen: Mit dem Herzen sehen, was der Andere braucht, um mit Kopf und Herz handeln zu können. Achtsamkeit ist das natürliche Gebet der Seele.

Geschichten können es immer besser ausdrücken als viele Worte:

Ein Mann hatte in seinem Garten einen Birnbaum, der im Herbst wunderbare und einmalige Früchte trug, so jedenfalls schien es den Kindern des Dorfes. Zur Zeit der Ernte räuberten sie regelmäßig den Baum und alles Schimpfen und Aufpassen des Besitzers half nichts. Um an die Früchte zu gelangen, mussten die Kinder immer höher in den Baum klettern. Als es wieder einmal so weit war und die Kinder ganz oben in den Ästen nach den Birnen griffen, schlich sich der Bauer mit einer Leiter an den Baum heran und lehnte sie, ohne dass die Kinder es bemerkten an den Stamm. Von dieser Stunde an hatten die Kinder und der Birnbaumbesitzer ihren Frieden miteinander geschlossen und neue Freundschaft gewonnen.

Ganz aktuell muss zum christlichen Auftrag, die größere Gerechtigkeit Jesu zu verwirklichen, auch dieses gesagt werden. Der Ausgleich kann immer nur von Oben nach Unten, vom Stärken zum Schwächeren, von dem, der Gerechtigkeit säen will zu dem, der noch in ungerechten Strukturen lebt, geschehen.

Die Welt wird nicht menschlicher, sie wird auch nicht gerechter, wenn wir nicht endlich Abschied nehmen von der Vorstellung einer bloßen Vergeltungsgerechtigkeit.

Auch das gehört zur Armut des Reichen, des Mächtigen, dass er auf sein angebliches Recht verzichtet. Dazu gehört die Erkenntnis, mitschuldig zu sein an der Schuld des Schuldigen. Ein Zeichen jener Armut, die Jesus selig preist, wäre die Befolgung seines Wortes: „Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand“ (Mt 5,39). In unserer Sprache: Beantwortet nicht das Böse mit Bösem.

Paulus interpretiert die Jesusstelle so: „Besiege das Böse durch das Gute“ (Röm 12,21). Das ist wahre Armut.

Satz Nr. 3:
In der Verkündigung Jesu haben die Armen den Vorrang vor den Reichen
Das muss uns zu denken geben. Wenn wir uns mit dem Ratschlag des Evangeliums zur Armut beschäftigen, dann klingen uns zwei Worte im Ohr:

Einem jungen Mann, der fragt, was er tun müsse, um das ewige Leben zu gewinnen, antwortet Jesus: „Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen, so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach“ (Mt 19,21). Wir kennen die Reaktion des Fragestellers: „Er ging traurig weg, denn er hatte ein großes Vermögen“ (Mt 19,22).

Das andere Wort steht gleich zum Beginn der Bergpredigt:
„Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich“ (Mt 5,3). Lukas verkürzt dieses Wort etwas, wenn er sagt: „Selig, ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes“ (6,20).

In beiden Worten zeigt sich die Spannung, die sich uns bei der Beschäftigung mit der Armut auftut. Wir Franken sprechen von „meiner Sach“ und „deiner Sach“ und grenzen damit die jeweiligen Besitzverhältnisse genau von einander ab.

Etwas haben, bedeutet für uns nach wie vor, etwas sein. Unser Haben gibt uns im Verhältnis zu anderen Menschen Sicherheit und garantiert uns Einfluss. Wer verliert, was er hat, verliert nicht nur Hab und Gut, er verliert auch sein Ansehen. Das macht das Armsein oder Verzichten und Loslassenkönnen so schwer. Denn wir möchten wenigstens das Gesicht bewahren.

Mehr als die ein, zwei, fünf EURO, die ich einem Bittsteller an der Haustüre gebe, möchte ich deshalb einem Menschen in Not, gleich ob er sie selbst verschuldet hat oder nicht, den nötigen Respekt und die Achtung dazu schenken. Das, was Jesus in solchen Fällen getan hat, nämlich auf Augenhöhe zu dem Bittenden zu gehen, das habe ich erst mühsam lernen müssen. Wenn ich schon teile, dann kann es doch auch fröhlich geschehen.
Zurück zu den beiden Schriftstellen: Wir haben es erkannt: Im Falle des Mannes mit dem großen Besitz (vgl Mt 19,16 ff.), ist der Reichtum das entscheidende Hindernis auf dem Weg zum Reich Gottes. Hier wäre ein Rat zu wenig. Jesus fordert zum Loslassen und zur Nachfolge auf. Reichtum kann uns so binden und fesseln, dass wir für alles andere blind werden.

Daher kommt die paradoxe Redeweise, die Jesus so sehr liebt: Mk:10:25 „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.“ Die richtige Übersetzung des lautet allerdings, ohne dass es in unsere Texte vorgedrungen wäre: Eher geht ein Schiffstau durch ein Nadelöhr.

Für einen, der so an dem Besitz hängt, dass er zu einer Last wird, gibt es nur die klare Entscheidung: Entweder – oder! In diesem Falle ist Jesus radikal. Das heißt er packt das Übel an der Wurzel. Um diese Radikalität dürfen wir das Wort der Schrift nicht berauben. Die Gefahr dazu, Jesu Worte mit allerlei Wenn und Aber bequem zu machen, ist groß. Also: was für die einen ein Rat sein kann, ist für andere eine Herausforderung: Ein Ausziehen aus den bisherigen Lebensgewohnheiten oder Lebensumständen. Wir müssen hinhören, was uns geraten wird oder wo wir betroffen sind.

Jesus fordert, davon bin ich überzeugt, eine „arme Kirche“. Viele Reformversuche der Kirche beschäftigten sich in der Geschichte mit dieser Forderung. Gegen eine arme Kirche gibt es nach wie vor viele Einwände, obwohl sie dann eher die Kirche Jesu wäre. Nicht nur in dieser Frage steht die Bekehrung der Kirche noch aus.

Wir gründen zwar gemeinnützige GmbHs, um unsere caritativen Aufgaben zu bewältigen, ein Plus an Nächstenliebe ist damit meist nicht erreicht, eher das Gegenteil. Sozialstationen z.B. müssen heute wie Unternehmen geführt werden und geraten in die große Gefahr, vor lauter Abrechnungsbogen den Menschen zu übersehen.

Satz Nr. 4:
Armutsbewegungen haben gegen eine reiche Kirche die evangelischen Anstöße zur Armut lebendig gehalten.
Armut und Weihnachten ist bei Franz von Assisi miteinander eng verknüpft
Mahatma Gandhi hat das so ausgedrückt: „Die Welt hat genug für die Bedürfnisse eines jeden Menschen, aber nicht genug für jedermanns Gier.“

Das heißt: wir müssen einen 3. Weg suchen zwischen dem Evangelium des Wohlstands und der Armut: Das Evangelium der Fülle, von dem Jesus spricht, und das seine Wurzeln in der Theologie des „es ist genug“ hat. Insofern ist mir die Christologie des vom Vatikan verurteilten Befreiungstheologen Jon Sobrino, der „Christus der Armen“, weit näher als der Jesus im neuesten Buch unseres Papstes.

Es ist ein schmaler und gefährlicher Grat zwischen persönlicher Armut und gemeinschaftlichem Reichtum. Das haben viele erfahren müssen, die den Versuch gemacht haben, den Rat zur Armut radikal zu befolgen. Am Ende der Reformentwicklung waren beispielsweise die Ebracher Äbte wieder so reich, dass sie noch viele Tagesetappen von ihrem Kloster entfernt, in eigenen Höfen übernachten konnten: Schweinfurt, Würzburg, Frankfurt, Fulda, sind nur einige Beispiele für die komfortablen Ebracher Unterkünfte. Ganz abgesehen von der prächtigen Residenz in Ebrach selber. Es ist nicht leicht, einem Ideal zu folgen.

Das geht bis hin zu dem Vorwurf, dem man einem bekannten Franziskaner in Schweinfurt nach dem Genuss von drei, vier abendlichen Schoppen Wein machte: Er habe doch die Armut gelobt! Der schlagfertige Mönch darauf: „Die Armut schon, aber nicht das Elend!“

Schon in der frühchristlichen Zeit gibt es den Eigentumsverzicht, der gelegentlich auch zur Gütergemeinschaft führte. Das, was wir heute unter Armutsbewegung verstehen, entstand erst im 11. Jahrhundert als Antwort auf den Reichtum der Kirche und die wachsende Armut in der Bevölkerung.

Frauen spielten in dieser Bewegung eine tragende Rolle. Dem entgegen kam sofort die harsche Kirchenkritik, um die ständig neuen Versuche, dem „Ideal des armen Christus“ nahe zu kommen, abzuschmettern.

Die Imitatio Christi konfrontierte die Kirche zugleich mit dem Wunsch der Laien, stärker an der Verkündigung des Evangeliums teilzuhaben. Wir erleben Ähnliches heute wieder in der so genannten 3. und 4. Welt. Die Befreiungstheologie, vom Rom massiv bekämpft, verbindet die Situation der sozialen und gesellschaftlichen Armut mit dem Selbstbewusstsein der Laien, das Werk der Erlösung Jesu auch mit dem Kampf um die Befreiung des Menschen aus jedweder Abhängigkeit zu verbinden.

Das Armutsideal macht sensibel für die Gerechtigkeit und für eine Kirche, die aus allen ihren Gliedern lebt. Wenn ich an die paradoxe Redeweise Jesu denke:

• Eher geht ein Schiffstau durch ein Nadelöhr …
• Das Brett vor deinem Kopf übersiehst du, aber den Splitter willst du deinem Bruder aus dem Auge ziehen.

dann bekommt sein prophetisches Wort: Mt, 26:11 „Denn die Armen habt ihr immer bei euch, mich aber habt ihr nicht immer“, gerade im Zusammenhang mit der zärtlichen Zuwendung durch eine Hure eine neue spirituelle Bedeutung. Eds könnte uns auch sagen: Menschen, die arm leben wollen, habt ihr allezeit unter euch. Ein tröstliches Wort, dass der Kirche die spirituelle Kraft zum Loslassen und zum alternativen Leben nicht ausgehen wird.

Ohne die Armutsbewegung des 12. Jahrhunderts ist das Denken und Wirken eines Franz von Assisi unmöglich. Für mich ist es eine beglückende Erfahrung, dass diese „schönste Blüte“ dieser Bewegung noch heute imstande ist, Frucht zu bringen. Assisi und Taizé sind vor allem für junge Leute allererste Adressen, das Evangelium zu hören und zu verstehen. Leider finden die Heimkehrer in den seltensten Fällen zu Hause eine Möglichkeit zur Verwirklichung ihrer Ideale; sie finden oft nicht einmal Verständnis für ihre Erwartungen.

Es ist uns das Gebet eines suchenden Menschen aus dem 5. Jahrhundert vor Christus erhalten. Dort heißt es:

Herr, ich bitte dich um zwei Dinge, verweigere sie mir nicht, bevor ich sterbe: Schenke mir weder Armut noch Reichtum. Gib mir meinen Anteil am täglichen Brot. Im Überfluss könnte ich dich verraten und sagen: Gott gibt es nicht. In der Not könnte ich den Namen Gottes verfluchen und erniedrigen.

Die lange Geschichte der Kirche ist durch das Erbe eines inkonsequenten Lebens belastet; die Kirchen haben meist nur gelehrt, was man als Christ zu glauben hat, und nicht gezeigt, wie man als Christ lebt.

Die großen Versuchungen haben ihre deutlichen Spuren hinterlassen. Reichtum und Macht sind allemal und noch heute die großen Verführer, auch in der Kirche. Wie um das zu vertuschen, wurde eine andere Front eröffnet, aus deren Schützengräben wir noch heute nicht heraus gekommen sind, der Kampf gegen die Sexualität.

Die Mahnung Jesu, sich mit dem ungerechten Mammon Freunde zu verschaffen, ist an uns oft genug abgelaufen wie Wasser am bunten Kirchenfenster. Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist. Das Geld steht ihr dabei – so merkwürdig das klingt – im Wege. Das ist Götzendienst, und gegen den wendet sich das 1. Gebot.

Satz Nr. 5:
Reichtum wie Armut müssen einen Sinn machen, sonst sind sie spirituell nichts wert
Ein Problem, das die junge Generation stärker beschäftigt als die Unsrige ist die Frage nach dem Sinn. Die Feststellung „es macht doch alles keinen Sinn“ ist weit verbreitet. Der süchtige Gebrauch der Drogen ist darauf nur eine mögliche, zugleich aber gefährliche Antwort.

Im Gegensatz zum Tier sagen dem Menschen keine Instinkte, was er tun muss. Im Gegensatz zu früheren Generationen sagen dem Menschen von heute keine Traditionen mehr, was er tun soll. Wir haben die Traditionen unbesehen abgeschafft, statt alles zu prüfen und das Gute zu behalten. Das Ergebnis dieses Prozesses: Viele wissen nicht mehr, was sie wollen und sollen. Was also Sinn macht.

Das ist die eine Seite. Die andere sagt uns: Nehmen und lassen wir den Menschen einfach wie er ist, dann machen wir ihn schlechter oder lassen es zu. Er verläuft sich buchstäblich. Also ist es unsere Aufgabe, und damit stehen wir wieder mitten im Evangelium, den Menschen heraus zufordern, ihm etwas zu zumuten im wahren Wortsinn: Ihm Mut zu machen, über die Entdeckung seines Lebenssinnes auch sein Handeln bestimmen zu lassen, vor allem durch das Nicht-haben-Müssen, das Lassen und das Loslassen.

Dazu wieder eine Geschichte:

Ein Mann träumte, dass er durch einen Stein reich werden könne, den ein Weiser in seinem Beutel mit sich herum trage. Und wirklich sah er am nächsten Tag unter einem Mangobaum einen Wandermönch sitzen. Mit der größten Selbstverständlichkeit bat er: Schenke mir den Stein, den du in deinem Beutel herum trägst. Der Mönch fand den Stein zwischen den wenigen Habseligkeiten und reichte ihm dem Bittenden. Der trug ihn voller Aufregung nach Hause, denn es war ein faustgroßer Diamant von unschätzbarem Wert. Die ganze Nacht konnte er nicht schlafen. Als er sich auch die dritte Nacht schlaflos im Bett herumwälzte, ging er in aller Morgenfrühe los, um den Wandermönch zu suchen. Als er ihn fand, schilderte er seine Unruhe, in die ihn der wertvolle Stein versetzt hatte. Der Mönch sagte nur: „Ich trug den Stein nur in meinem Beutel. Dich aber hat der Stein in deinem Kopf.“

Dabei bringt es nichts – das ist wieder die Sprache der Jugend – den Verzicht zu fordern und nichts dafür zu geben. Es ist erstaunlich, wie Jesus voller Verständnis diese Erwartung des Menschen aufgreift.

Wir sollten also nicht so zimperlich sein, wenn es um die Frage geht: Was habe ich davon? Was bringt es mir? Die Antwort steht in der Bergpredigt: „Selig, die arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Himmelreich“ (Mt 5,3). – Übersetzt: „Je mehr wir außen weglassen, desto mehr kommen wir nach innen.“

Eine weitere Geschichte:

Zwei Mönche hielten sich einen Goldfisch. In den kargen Stunden der Erholung sahen sie im gerne zu, wie er im Glas ruhig seine Kreise zog. Das machte auch sie ruhig und sie erfreuten sich an ihm. Eine Tages trieb der Goldfisch mit dem Bauch nach oben im Glas. Über Nacht war er eingegangen. Die beiden Mönche waren voller Trauer, und der Abt fand sie in tiefer Betrübnis. Da sagte er zu ihnen: „Wir reifen nicht durch das, was wir erringen und festhalten. Wir reifen dort, wo wir loslassen.

Noch deutlicher wird Jesus auf die bange Frage des Petrus, der offensichtlich nach einiger Zeit mit gewisser Wehmut und Trauer auf all das zurück sieht, was er um der Nachfolge willen verlassen hat. Petrus zählt seine Verluste sogar an den Fingern seiner Hände auf: Häuser, Brüder, Schwestern, Vater, Mutter, Kinder oder Äcker …

Ihr werdet das Hundertfache erhalten und das ewige Leben gewinnen (Mt 19,29).

Wer lässt, bekommt immer mehr dafür. Das beste Beispiel ist die Liebe: Sie wächst, wenn wir sie verschwenden Wer fest klammert, nimmt dem anderen nicht nur die Luft zum Atmen, sondern auch die Lust zum Lieben.

Damit wird für uns zugleich das wichtige spirituelle Stichwort geliefert: Loslassen um zu gewinnen. Die Aufforderung, loszulassen, provoziert uns, fordert uns heraus, nicht an den Dingen der Welt zu kleben. Wir sind ständig in der Gefahr, uns an Vorläufigem fest zu machen. Das Vorläufige besteht nicht nur in Geld, Ansehen, Besitz und Macht. Wer zum Beispiel dem Satz zustimmt: Hauptsache gesund! der klammert sich an etwas Vorläufigem fest und verhindert das Nachdenken über das, was wirklich die Hauptsache ist.

Jesus sagt: „Euch muss es zuerst um das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazu gegeben“ (Mt 6,33).

Da ist von einer Zugabe die Rede, wie wenn einer in der Apotheke für 120 Mark Medikamente einkauft und ein paar billige Tempotaschentücher dazu bekommt. Das, was für euch so wichtig erscheint und wofür ihr euch abrackert, sagt Jesus, ist lediglich eine Zugabe. Das Wesentliche wird euch geschenkt.

Loslassen ist eines der ersten spirituellen Gesetze und zugleich der entscheidende Schritt in die Freiheit. Mit einem ganz banalen Beispiel will ich es verdeutlichen:

Lange Zeit habe ich unter anonymen Zuschriften gelitten. Was mich am meisten ärgerte, war, dass ich dem Heckenschützen nicht widersprechen oder mich ihm gegenüber nicht rechtfertigen konnte. Der abgeschossene Pfeil saß und manchmal blieb die abgebrochene Spitze lange sitzen und eiterte. Bis ich meine Neugierde loslassen konnte. Seither wird jeder Brief ohne Absender zwar geöffnet; gibt es aber auch innen keinen Adressaten, versage ich mir, den Brief zu lesen. Er wandert in den Papierkorb. Das kostete einige Übung, aber jetzt funktioniert es: Der Anonyme hat sein Ziel nicht erreicht und ich bleibe frei von bösen Gedanken. Wenn sie so wollen, auch eine Form der selbst gewählten Armut, die nur gewinnen, nichts verlieren kann.

Viel tiefer reicht das Loslassen überall dort, wo es um Sachen oder auch Menschen geht, die mich binden oder besetzen. Wir kennen das tödliche Klammern eines Ertrinkenden, der seinen Retter mit in die Tiefe ziehen kann. Das Loslassen selbst in kritischster Situation könnte beide retten. Partnerschaften scheitern heute eher am Klammern, als an Freizügigkeiten. Es sind die hohen, oft überzogenen Erwartungen (also das Gegenteil von Armut), die den anderen überfordern und den Bruch heraus fordern.

Im Loslassen Punkt für Punkt und Schritt für Schritt, werden unsere Hände immer offener, bis wir ganz arm, sprich ganz offen vor Gott stehen können, damit er uns die Hände füllen kann. Deswegen kann auch ein Reicher arm, ein Armer reich sein.
Wie paradox, widersprüchlich gegen das Evangelium, unser Leben verlaufen kann, mag dieses Gleichnis deutlich machen:

Affen, die mit ihren Herden die Ernten indischer Stämme verwüsten können, gelten als heilig, also dürfen sie nicht getötet, höchstens gefangen werden. Das geschieht so: Lederbeutel werden mit einer Süßspeise gefüllt und die Öffnung wird gerade so eng gehalten, dass eine offene Affenhand an die begehrte Speise gelangen kann. Sobald sie aber gefüllt ist, bleibt sie in der engen Beutelöffnung stecken und der Affe kann gefangen werden. Er müsste nur loslassen, um frei zu sein.

Benehmen wir uns spirituell nicht manchmal wie die Affen? Wir lassen nicht los und bringen uns dadurch oft in lebenslange Gefangenschaft. Wir sind nicht frei; wir sind besetzt oder gar besessen. Wir jammern und klagen über die Lasten und Belastungen, aber wir lassen uns nicht davon befreien. So etwa, wie ich Menschen erlebt habe, denen die Last einer Krankheit bequemer erschien, als die Herausforderung durch die Gesundheit, für die man dann einiges tun, bzw. lassen müsste.

Wir entscheiden uns für das Einfache, das Vorläufige dieser Welt und verschmähen das Einmalige und das Hundertfache Gottes, das er uns verspricht. Nicht erst für ein Leben nach diesem Leben, sondern schon jetzt. Wer einmal das befreiende Gefühl erlebt hat, als es ihm endlich gelungen war, beispielsweise eine Feindschaft loszulassen oder sich von einem Sorge machenden Besitz zu trennen, weiß wovon ich rede.

Deswegen ist es gar nicht erstaunlich, dass Mediziner bestimmte Krankheitsformen, z.B. chronische Verstopfung oder Steinbildungen mit der Unfähigkeit loszulassen oder mit der Bereitschaft „immer nur zu schlucken“ zusammen bringen. Das bedeutet, wir sollten auch sensibler auf das achten, was uns unser Leib signalisiert.

Satz Nr. 6:
Lass es gut sein, für eine Theologie des „es ist genug“.
Dazu ermuntert uns die Spiritualität.
Vor Jahren haben die Beatles einen durch und durch spirituellen Song geschrieben, der in der Aufforderung gipfelt „let it be“: Lass es sein, lass es gut sein! Die Jungen haben damals begeistert mit gesungen und wir haben versäumt, ihnen diese spirituelle Botschaft zu deuten.

Das ist es überhaupt, was ich in meiner Kirche beklage, dass sie die spirituellen Ansprüche des Evangeliums zu herab gesetzten Preisen, sprich lediglich in der Form moralischer oder kirchenrechtlicher Forderungen anbietet. Es ist mehr Spiritualität in unserer Welt und es ist mehr Bedürfnis danach, als wir von unseren Kanzeln vermelden. Das ist ein geradezu tödliches Versäumnis. Denn ohne die spirituelle Basis erstarrt die Religion in Riten und Formeln und stirbt in den Herzen der Menschen.

Ich behaupte noch einmal, auch in unserer Zeit und in unseren Lebensumständen ist mehr Spiritualität verborgen, als wir entwickeln. Ein kurzes Beispiel mag das verdeutlichen, was ich meine:

Vielen jungen Männern ist es heute vergönnt, bei der Geburt ihres Kindes dabei zu sein. Das ist ein Erlebnis, auf das wir den werdenden Vater zu wenig vorbereiten und dann versäumen wir es auch noch, diese Erfahrung spirituell zu deuten. Was bleibt dann anderes, als diesen Vorgang buchstäblich im Alkohol zu ertränken? Damit aber wird die Vaterschaft spirituell nicht fruchtbar und wir sollten uns nicht wundern, wenn Väter bei der (religiösen) Erziehung ihrer Kinder ausfallen.

Einen anderen Gedanken möchte ich mit einer weiteren Geschichte einführen:

Eine Frau hatte alle Religionen der Welt geprüft und keine für gut genug befunden, also lebte sie nach ihren eigenen Vorstellungen. Als sie eines Tages befragt wurde, wer außer ihr überhaupt in den Himmel komme, vielleicht noch ihre Hausdame, die sie Tag und Nacht versorgte, antwortete sie: „Bei der Hausdame bin ich mir nicht ganz so sicher.“

Die Sicherheit im Glauben ist eine besondere Form des gefährlichen Reichtums. In Selbstsicherheit verhärtete Menschen scheinen einen intensiven Hang zur Religion zu haben. Ein Indiz für einen solchen Menschen ist das Gefühl, das man bei einer Begegnung hat: „Es macht absolut keinen Sinn mit ihm zu reden. Er ist randvoll, er lässt sich nicht erreichen, geschweige denn erschüttern.“ Die in diesem Sinne reichen Menschen lassen nur jene religiösen Informationen zu, die ihre bisherigen Illusionen bestätigen. Solch sichere Menschen schaden dem Glauben weit mehr als Angriffe von außen.

Die „Armen im Geiste“, die Jesus selig preist, sind jene, die dieses Spiel nicht mitmachen. Das Zeichen dafür sind die offenen Hände und die offenen Herzen: Ich lasse mich von Gott beschenken. Ich bin gemeint. Welche Antwort erwartet Gott von mir auf seinen Anruf?
Die Armen im Geiste erwarten vom Glauben nicht Sicherheiten, sie liefern sich dem Risiko aus. Auch das ist das Gegenteil von Reichtum. Dieser Art sind die Reaktionen eines Menschen, der die erste Seligpreisung für sich annehmen möchte.

Noch eine weitere Geschichte:

In der Vatikanischen Bibliothek sind alle Schriften gesammelt, die in den vergangenen Jahrtausenden in allen Religionen der Welt über die Frage nach Gott entstanden waren: Viele tausend Bände; selbst die angestellten Bibliothekare wussten nicht, wie viele Bücher es wirklich waren. In der Amtszeit von Johannes XXV. geschah es schließlich, dass der Papst die Verantwortlichen für die gewaltige Bibliothek zusammen brachte und ihnen auftrug, das Beste und Wichtigste aus allen Büchern heraus zu suchen, zusammen zu fassen und darüber zu berichten.
Die Gelehrten arbeiten zwanzig Jahre an diesem Projekt. Schließlich hatten sie es geschafft. In nur tausend Bänden hatten sie die religiösen Erfahrungen der Welt geordnet.
Doch für Johannes XXVI., der inzwischen Jahren Papst war, schien das immer noch zu viel. Erneut machten sich die Gelehrten an die Arbeit und reduzierten das religiöse Wissen auf hundert Bände. Zehn Jahre brauchten sie dazu.
Der Papst, bereits müde geworden, winkte ab, so sehr er die Leistung der Gelehrten anerkannte: „Das alles ist noch viel zu viel!“
Ein Franziskaner, der von dem aufwändigen Vorhaben gehört hatte, behauptete die Lösung des Problems zu kennen und wurde von Papst Johannes XXVII. eingeladen.Er überreichte dem Papst ein einziges Blatt Papier. Mit leichten Strichen war ein Herz auf das Papier gezeichnet und darunter stand nur ein Wort, das dreimal unterstrichen war: „Liebe“.

Satz Nr. 7:
Die Liebe ist das Erkennungszeichen für den rechten Umgang mit Armut und Reichtum
Liebe ist das einzige Kriterium für alles, was wir lassen oder loslassen. Armut ohne die Liebe, Verzicht ohne die Liebe, sind wert-, nutz- und sinnlos. An der Liebe wird alles gemessen, denn es bleiben nur drei Dinge, sagt Paulus: Glaube, Hoffnung und Liebe. Doch am größten unter ihnen ist die Liebe (vgl 1 Kor 13,13). „Denn wir werden als Christen an der Liebe erkannt, ja wir werden an der Liebe erst erkannt“, heißt es in einem Lied, das in unser Gotteslob (Nr.996) aufgenommen wurde.

Viele in unserer Gesellschaft haben die Möglichkeit, sich alle Wünsche zu erfüllen. Auf der anderen Seite wird die ungewollte Armut größer: Die ungerechten, die sündigen Strukturen unserer Welt, sorgen dafür, dass die Reichen immer reicher, die Armen immer ärmer werden.

Das bedeutet für uns eine neue Herausforderung. Solidarität ist das Wort dafür, das im Evangelium von der Sache her angemahnt wird. Frei gewählte Armut wird sich immer im Verzicht für ein Engagement verwirklichen. Die Armut kann kein Selbstzweck sein. So wie es für unsere seelische Gesundheit wichtig ist, dass immer noch Wünsche offen bleiben, ist es für unsere religiöse Gesundheit wichtig, dass unser Verzicht und unser Loslassen ein Motiv haben, das uns trägt.

Eine Erzählung beschreibt das:

Ein alter Mann saß in einer Kneipe. Im Gegensatz zu den anderen Gästen machte er einen zufriedenen Eindruck. Als er nach dem Grund dafür befragt wurde, antwortete er: „Ich bin der Mensch, der einen Wunsch frei hat.“
Jetzt waren die übrigen Gäste neugierig geworden und der Alte erzählte: „Ob ihr es glaubt oder nicht. Als ich einmal besonders unzufrieden war und mit meinem Schicksal haderte, saß plötzlich ein Mann neben mir. Er sah aus wie eine Mischung zwischen Engel und Weihnachtsmann und sagte, ich hätte drei Wünsche frei. Immer noch wütend über mein Schicksal wünschte ich den Kerl zum Teufel. Sofort war er verschwunden. Ich erschrak, denn es konnte ja sein, dass der arme Kerl jetzt tatsächlich in der Hölle schmoren müsste. Als wünschte ich ihn mit meinem zweiten Wunsch wieder zurück – und schon saß er neben mir, wenn auch mit leicht angesengten Bart- und Haarspitzen und einem vorwurfsvollen Blick. Seit diesem Ereignis hat sich mein Leben verändert“, fügte der Alte noch hinzu.
Die Gäste wollten natürlich wissen, wie er den dritten und letzten Wunsch eingesetzt habe. Der Alte stand auf und beim Hinausgehen sagte er: „Den habe ich 40 Jahre lang nicht angerührt. Wünsche sind nur so lange gut, so lange man sie noch vor sich hat …“

Wer im Geiste der Armut lebt, hat sozusagen immer einen Wunsch frei. Er überlässt es Gott, wann aus dem Wunsch Erfüllung und damit ewige Schau und Seligkeit werden. Bis dorthin lebt er um des Himmelreiches willen.

„Um des Himmelreiches willen“ wird uns als Motiv vorgegeben. Das Himmelreich werden nur die Liebenden gewinnen. Das bedeutet aber keineswegs eine Verschiebung ins Jenseits. Das Reich Gottes entsteht unter uns, mit uns. Die Evangelischen Räte sind sozusagen Bauteile dieses kommenden Reiches, keinesfalls fertig, sondern von uns nach unseren Möglichkeiten zu gestalten.

Unseren Abend möchte ich mit einer letzten Geschichte beschließen, die Sie auf dem Nachhauseweg begleiten kann:

Zum Meister kam ein Mann, der trotz seines Ansehens, seines Reichtums und seiner beruflichen Karriere nicht glücklich war. „Ich habe alles, was ich mir wünschen kann“, sagte der Mann: „Ein Haus, zwei Autos, Aktien, Frau und Kinder sind gesund. Und doch fühle ich mich nicht wohl.“
„Du erinnerst mich an einen Mann“, antwortete der Meister, „der versuchte ständig, ein Tor nach außen hin auf zu machen. Doch so sehr er sich auch bemühte, das Tor ließ sich nicht öffnen. Verzweifelt versuchte er es immer wieder, weil er sich inzwischen wie eingesperrt fühlte. Über all dem Bemühen war er müde geworden und erschöpft schlief er ein. Im Traum sah er, dass sich die Türe nach innen problemlos öffnen ließ.“