2. Advent 2010 – Predigt über die Zeit – (über dem Ambo hängt eine Uhr…)

Liebe Schwestern und Brüder, es ist gefährlich, unter dieser Uhr zu predigen. Denn jetzt werden Sie alle aufpassen: wie lange predigt der Pfarrer? Aber es ist genauso gefährlich für mich ganz persönlich, über die Zeit zu predigen, die wir so oft nicht haben, die Uhr, die uns hetzt und treibt; denn auch ich muss ehrlich sagen: ich hätte gerne mehr von der Zeit, und 30 Stunden wären mit lieber als 24. Wie töricht wir Menschen doch sind, wie unruhig und wie gehetzt. Es ist schon etwas Seltsames und Eigenartiges mit der Zeit und so einer Uhr.

Eine Uhr heißt auch Chronometer, ein Zeitmesser. Eine gute Uhr geht auf Zehntelsekunden genau. Das griechische Wort für Zeit ist „Chronos“, und Chronos war jener Göttervater, der seine eigenen Kinder aus lauter Angst auffraß, sie könnten ihm die Zeit stehlen und ihn vom Thron stürzen. Vielleicht ist es ja wirklich so, dass die Zeit ihre Kinder frisst, so ähnlich wie es in dem berühmten Kinderbuch „MOMO“ beschrieben ist. Jedenfalls empfinden das viele so, die von der Zeit gejagt und gehetzt, ja, buchstäblich aufgefressen werden.

Die Stunde, die wir hier jeden Sonntag miteinander verbringen, hat einen anderen Namen: „Kairos“. Dieses zweite griechische Wort für Zeit beschreibt die Stunden und unsere Tage als gut und als wohltuend. Kairos, das ist die gelebte Zeit, das ist der Augenblick, in dem wir leben und einander und uns selbst begegnen. Da lassen wir uns nicht von der Zeit bestimmen, wir nehmen uns die Zeit, wir kommen zusammen, wir reden und hören, wir schweigen und singen, wir feiern Gottesdienst.

Jesus ermuntert uns, die gute, die wohltuende Zeit zu wählen. „Jetzt ist die Zeit, jetzt ist die Stunde“, singt ein modernes Lied: „Heute wird getan oder auch vertan, worauf es ankommt, wenn ER kommt.“ Es gilt, die Zeit zu leben. Die Verkündigung der Frohen Botschaft beginnt er mit der Einladung:
„Die Zeit ist erfüllt. Das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ Wo der Chronos herrscht, da herrschen Mangel und Hetze und Angst. Wenn wir dagegen unsere Zeit aus den Händen Gottes empfangen, dann dürfen wir sie genießen. Es braucht allerdings Zeit, bis wir alle die Schätze entdecken, die in seinen Händen für uns bereitliegen.

Jetzt könnte der Einwand kommen: Zeit ist Zeit. Die Sekunden, Minuten, Stunden vergehen in jedem Fall, so oder so, gleich schnell. Und doch haben wir alle die Zeit schon ganz anders und unterschiedlich erfahren: In Angst und Gefahr hängt sie uns wie Blei an den Füßen. In freundschaftlicher Atmosphäre nehmen wir die Zeit an wie ein schönes Geschenk. Das genau ist die Erfahrung der Zeit, wie sie aus Gottes Händen kommt.

Wer darauf achtet, wer sich seine Zeit aus Gottes Händen nimmt, für den können Zeiten „heilige Zeiten“ werden. Heilige Zeiten stehen nicht unbedingt im Kalender, wie jetzt wieder der Advent. Heilige Zeiten entstehen durch uns oder sie werden vertan. Die Stunde der Liebenden ist dann genau so eine heilige Zeit, wie die Zeit des Aushaltens bei einem Sterbenden.

Zeit stehlen, der Zeit hinterher jagen, die Zeit totschlagen oder sie verfluchen, da wirkt der Götze Chronos, voller Zukunftsangst und Eigenliebe. Wer mit Chronos lebt, schlittert von einem Zuspät in die nächste Enttäuschung. Wer mit Kairos, der wohltuenden Zeit Jesu, lebt, wird den rechten Augenblick, das richtige Wort, die richtige Tat zur rechten Zeit nicht versäumen. Er weiß, worauf es ankommt. Den Rhythmus der jeweiligen Zeit erkennen und pflegen, so wie es sich beispielsweise auf das Kommen und Gehen des Atems achten lässt, um sich dessen wieder bewusst zu werden, macht uns die Zeit zum Geschenk.

Ich glaube, es macht überhaupt keinen Sinn, über die Hektik der vorweihnachtlichen Zeit zu jammern. Es macht auch keinen Sinn, dagegen Aktionen in Gang zu setzen, die wiederum neue Hektik erzeugen.
Es genügt, für sich einen Schritt aus dem Chronometer der Gesellschaft heraus zu tun. Schon fließt der hektische Strom an uns vorbei und Gelassenheit breitet sich aus. Schon deswegen gewöhnen wir uns das Wort „Ich habe keine Zeit!“ am besten ganz ab. Sagen wir lieber: „Ich nehme mir jetzt die Zeit für dich oder für etwas.“

Wir haben uns heute Zeit für diesen Gottesdienst genommen. Wir folgen den Worten, der Stille, den gewohnten Ritualen, und beschenken uns damit. Wir üben die Langsamkeit und wir genießen die Ruhe. Zeit, die wir aus den Händen Gottes nehmen, ist unsere Zeit. Niemand kann sie uns nehmen, aber wir können sie verschenken.

Noch einmal: diese Predigt heute abend habe ich Ihnen und euch allen gehalten, jedem einzelnen von euch – aber am meisten: mir selbst…!

Amen.

Georg Klar
Pfarrer St. Margaretha
Mainaschaff