100 Jahre Caritas in Mainaschaff und die Seligpreisungen (Predigt am 23.01.2011)

Liebe Schwestern und Brüder! Ich möchte euch heute entführen, auf eine Zeitreise mitnehmen, aber nicht nur 100 Jahre zurück in das Jahr 1911, in dem die „Caritas vor Ort“ hier in Mainaschaff gegründet wurde, also der Johanniszweigverein, der Vorläufer unserer heutigen Johannes-Gemeinschaft – nein, viel weiter, über 800 Jahre zurück in das Jahr 1208.

Als der junge Franz von Assisi in jenem Jahr während einer Messe in der Kirche von San Damiano das gerade eben gehörte Evangelium vernahm, da hörte er in seinem Herzen laut und vernehmlich die Stimme Gottes und er wurde von genau diesem Evangelium gedrängt, sein Geld und Gut den Armen zu geben, um frei zu sein für Gott und die Menschen. Unverzüglich begann er nach jenem besagten Gottesdienst, sein Geld an die Armen zu verteilen. Dabei wurde er beobachtet von vielen Menschen, unter anderem auch von einem Priester mit Namen Silvestro. Silvestro fiel ein, dass er Franziskus einmal Steine für den Aufbau der Kirche von San Damiano gegeben hatte. Als er sah, dass Franziskus sein Geld mit vollen Händen weggab, da witterte Silvestro seine Chance, diese Steine endlich bezahlt zu bekommen. Eilends lief er zu Franziskus und forderte sein Geld. Und Franziskus gab ihm auch sofort einen ganzen Beutel mit Goldstücken. Überglücklich rannte Silvestro nach Hause und freute sich, dass er plötzlich reich geworden war.

Aber irgendetwas ließ ihm keine Ruhe. Er merkte mit jedem Tag mehr: ihm war nicht wohl dabei. Er spürte, dass all das so nicht in Ordnung war. Er sagte zu sich selbst: „Ich bin ein Priester, ich bin älter und hänge am Geld. Franziskus ist jung, kein Priester, er ist frei von der Gier nach Geld und lebt das Evangelium.“ Und Silvestro wurde sehr traurig. Am folgenden Tag hielt er es einfach nicht mehr aus: Er nahm den Goldbeutel, rannte damit zu Franziskus zurück und sagte „Kann ich nicht auch so leben wie du?“ Und Silvestro wurde einer der ersten Gefährten des heiligen Franz, ein einfacher, ein armer, ein unendlich glücklicher Heiliger. Diese Begebenheit aus dem Leben des heiligen Franz erinnert mich an die Worte von Padre José, die er einmal aufgeschrieben hat: „Glücklich macht auf die Dauer nur, was du an Zeit oder Geld an andere herschenkst.“

Diese Worte sind wie eine Übersetzung der Seligpreisungen in unser Heute. Diese Seligpreisungen am Anfang der Bergpredigt sind das Zentrum der Botschaft Jesu. Jesus hatte einen Traum. Er träumte von einer neuen Welt, von der Welt, wie sie sich Gott gedacht hat. Dabei hatte er auch genau gesehen, wie diese Welt und das Leben der Menschen sein kann. Er hatte niemals nur ein schönes, aber unrealistisches Bild von der Welt und dem Leben der Menschen gemalt. Er kannte das Leben und er kannte den Menschen. Er kannte die Strukturen von Gewalt, Sünde und Oberflächlichkeit – er kannte die Verführbarkeit des Menschen durch Macht und Geld. Aber er hielt am Traum Gottes fest, dass Menschen lernen können: Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit lernen können. Die Seligpreisungen sind für ihn so etwas wie die Richtlinien dieser neuen Welt und gleichzeitig sind sie der Weg in diese neue Welt – nicht irgendwann, sondern hier und jetzt. Man mag zuerst ein wenig zurückschrecken, wenn man sie hört, man mag sich überfordert fühlen. Man mag sie vielleicht sogar als Träumerei abtun. Aber sie wollen ernstgenommen werden.

Vielleicht sagen wir: „Das können wir doch nicht! Wir sind kein Franziskus!“ Aber, liebe Schwestern und Brüder: Niemand muss! Die Seligpreisungen sind eine große Einladung. Sie sind der Form nach eigentlich so etwas wie Glückwünsche: „Selig, die arm sind vor Gott!“. Und es wird die Verheißung hinzugefügt: „Denn ihnen gehört das Himmelreich“. Die Zeitgenossen des heiligen Franz bezeugen, dass er umso fröhlicher wurde, je mehr er verschenkt hatte. Durch das Schenken entstand kein Loch, das traurig machte, sondern durch das Schenken erfüllte den Heiligen eine große, eine selbstlose Liebe. Wenn wir wissen wollen, wie wahr diese erste Seligpreisung ist, dann müssen wir einfach auf Franziskus schauen.

Aber noch etwas anderes zeigt uns dieses „fioretto“, diese Erzählung über den heiligen Franziskus, die ich am Anfang mit euch geteilt habe: frei und aus Liebe leben – das wirkt irgendwie ansteckend. Danach sehnen wir uns doch eigentlich auch. Längst wissen wir aus unserer Erfahrung, dass Geben seliger ist als Nehmen, dass man Geld nicht essen kann und dass Reichtum letztlich nicht glücklich macht – zumindest nicht das Herz.

Und auf das Herz kommt es doch eigentlich an. Nicht umsonst findet es sich im Logo unserer Johannes-Gemeinschaft wie auch die Rose, die zum Zeichen wird für die Liebe und die Aufmerksamkeit füreinander. Menschen, die so mitmenschlich leben – im Geist der Seligpreisungen – sind Menschen nach dem Willen Gottes. In ihnen träumt Christus seinen Traum heute weiter. Viele von ihnen lebten und leben auch heute in unserer Gemeinde. Viele, die in den letzten hundert Jahren im Geist der Caritas, der Nächstenliebe, für andere da gewesen sind. Viele, die heute im gleichen Geist sich ihrer Mitmenschen annehmen und Verantwortung für sie übernehmen.

Es stimmt: Die Seligpreisungen legen die Latte ziemlich hoch. Und nur einer hat sie ganz gelebt: Jesus von Nazaret. Aber für uns bleiben sie Einladungen, die uns für ein großzügiges und für ein großherziges Leben begeistern wollen. Wenn wir so leben und den Traum Jesu mit Herz und Hand weiterträumen – in unserer Johannes-Gemeinschaft und in unserer Gemeinde, in unserer Kirche und in unserer Einen Welt, dann sind wir wirklich unterwegs zu einer neuen Welt, unterwegs zur Welt Gottes. Und je mehr es uns gelingt, in die Haltung der Seligpreisungen hineinzuwachsen, in die Haltung Jesu also, umso mehr leben wir schon jetzt in dieser neuen Welt Gottes. Ich wünsche uns, dass wir das immer tiefer spüren. Amen.